André Stern ist Musiker, Komponist, Gitarrenbaumeister, Journalist und Buchautor, spricht fünf Sprachen – und war nie in der Schule. Arno Stern und seine Frau Michelle wollten, dass er in einem natürlichen Umfeld seinen spontanen Interessen und vor allem seinem Rhythmus folgen kann. Er wuchs auf in vollem Vertrauen, ohne Leistungsdruck, Wettbewerb, Angst oder Fremdenhass. Auch für seinen fünfjährigen Sohn Antonin wählte André Stern den freien Weg der „Schule des Lebens“.

Mit der Initiative „Ökologie der Kindheit“ setzt er sich für diese neue Haltung ein, in der die Verbundenheit und das Vertrauen wieder in den Mittelpunkt gestellt werden. Wir hatten das Vergnügen, ihn im August beim Kongress „Pädagogik im Aufbruch“ zu treffen und ihn nach seiner erfrischend unverblümten Meinung über Kindheit, Lernen, Aufwachsen, Grenzen, Computerspiele und gesellschaftliche Entwicklungen zu fragen.


Was war der Grund für die Entscheidung deiner Eltern, dich nicht in die Schule zu schicken bzw. was ist heute für dich der Grund, dass dein Kind nicht in die Schule gehen muss?

Meine Eltern wollten die spontanen Veranlagungen ihrer Kinder nicht unterbrechen, nicht beeinflussen und nicht verunmöglichen. Nur ein kleines Beispiel von vielen Gründen ist, dass es für sie nicht denkbar war, ihre Kinder zu wecken. Wir Menschen sind die einzige Spezies, die ihre Kinder weckt. Bei meiner Frau und mir ist es ähnlich. Wir sind jetzt die zweite Generation und diese Entscheidung ist eine Nebenwirkung einer gewissen Überzeugung, die meine Eltern haben, und die wir auch haben. Aber vielleicht ist es eines Tages so, dass mein Sohn in die Schule gehen möchte, so wie ich auch jederzeit hätte gehen können, wenn ich gewollt hätte.


Hattest du nie das Bedürfnis, es kennen lernen zu wollen?

Ich persönlich hatte keine Lust zu schnuppern, weil ich sehr erfüllt und sehr beschäftigt war. Meine Tage waren so voll. Ich hatte für die Schule keine Zeit. Kinder wollen tun, was andere Menschen tun und die Mehrheit der Menschen geht nicht in die Schule. Der zweite Grund, warum ich nicht in die Schule gehen wollte, war, dass die anderen Kinder, die ich kennen gelernt habe, ziemlich unter Druck und gestresst waren und nie Zeit zum Spielen hatten. Ich konnte den ganzen Tag spielen! Wenn ich ihnen erzählte, dass ich nicht in die Schule gehe, war die Reaktion „Mensch, hast du ein Glück!“ – das gibt einem als Kind schon eine Orientierung.


In der heutigen Gesellschaft herrschtdie Meinung, dass man nur mit einer guten Schulbildung, guten Noten etc. auch gute Jobaussichten hat. Wie siehst du das, als Mensch, der ohne Schule so viele Tätigkeitsfelder hat?

Man übt so viel Druck mit Zeugnissen und Diplomen aus, aber es wimmelt nur so von Geschichten, die wir alle bewundern, die das Gegenteil beweisen. Das ist auch meine persönliche Erfahrung. Niemand wird dich nach einer Qualifikation fragen, wenn jemand dich und deine hohe begeisterte Kompetenz braucht. Wenn sich jemand wirklich tiefgehend für etwas begeistert, wird man automatisch immer kompetenter. Weil man das Wissen anzieht, entsprechende Begegnungen macht und auf vielfältige Weise Wissen austauscht. Ausgelebte Begeisterung hat eine Nebenwirkung – eine hohe aufrichtige, wahrhaftige Kompetenz. Ich habe mich mit 20 Jahren total in die deutsche Sprache verliebt und konnte mich sofort mit größter Begeisterung sechs bis sieben Stunden am Tag der deutschen Sprache widmen. Es ist niemand nach 45 Minuten gekommen und hat gesagt, genug Deutsch, jetzt kommt Bio oder Mathe.

Dinge, die man im Zustand der Aktivierung der emotionalen Zentren gelernt hat, vergisst man nicht. Diese hohe Kompetenz hat jedes Kind in irgendeinem Bereich und das, was uns daran hindert, sind Hierarchien. Oder bescheuerte Vorstellungen, dass einzelne Bereiche wichtiger oder ernsthafter sind als andere. Kinder erfreuen sich der Unterschiede und sie wissen, dass das gemeinsame Wissen alle dazu bringt, Dinge erreichen zu können, die wir alleine nicht erreichen. Ich denke, es lohnt sich, das zu probieren: eine Welt, wo nicht das Gegeneinander, Konkurrenz und nicht der Wettbewerb maßgebend sind, sondern das Miteinander.


Brauchen Kinder Grenzen?

Ersetzen wir das eine Wort durch ein anderes: Frauen brauchen Grenzen … Das wäre eine klare Diskriminierung … Darüber lohnt es sich nachzudenken. Grenzen setzen bedeutet Machtausübung, bedeutet aber auch, es besteht hier keine Beziehung. Da, wo eine Beziehung besteht, besteht Vertrauen auf Augenhöhe. Wenn du in so einer aufrichtigen Beziehung zu einem Kind bist, dann sind es keine Grenzen, sondern Orientierungen, die für das Kind so wichtig sind. Orientierung definierst du dadurch, dass du vorlebst. Man kann Nein sagen, vor allem wenn Nein die Ausnahme ist. Wenn der Tag voller Ja ist, dann ist ein Nein von Zeit zu Zeit kein Problem. Das Problem ist, dass die Tage der Kinder voll mit Nein sind. Das fängt damit an, dass man geweckt wird, und das geht den ganzen Tag so weiter.

Die Bewegung „Ökologie der Kindheit“ ist eine ganze neue Haltung. Sie schlägt vor, dass wir uns neue Fragen stellen. Wir stellen uns immer wieder die Fragen: „Was kann ich dem Kind beibringen? Wie kann ich es erziehen?“ Wir sollten uns besser die Frage stellen: „Was kann ich vom Kind alles lernen?“ Kinder sind wahre Meister in Sachen Offenheit, Unvoreingenommenheit, Vorurteilslosigkeit. Sie gehen in die weite Welt hinaus mit offenem Herzen und offenen Armen. Kinder gehen auf andere Lebewesen zu, ungeachtet ihrer Hautfarbe, Religion, ihres Einkommens und ihres Alters. Sie kennen keine Hierarchien, begeistern sich für den Müllmann und den Astronauten.

Kinder zeigen uns den Weg. Sie zeigen uns, wie eine bessere Welt eigentlich aussehen würde. Wir bräuchten uns nicht in diese bessere Welt entwickeln, wir müssten … wir bräuchten uns nur nicht allzu weit von diesem unserem nativen Zustand zu entfernen. Ich bin wirklich überzeugt, dass es keinen Frieden auf Erden geben wird, solange wir nicht in Frieden sind mit der Kindheit.

Zoë-Interview 2015

Infos zu André und Arno Stern:

andrestern.com
arnostern.com
oekologiederkindheit.com

 

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