Ist es tatsächlich so, dass immer mehr Kinder mit ADHS, Teilleistungsstörungen, Intelligenzminderung und Autismus therapiebedürftig sind?“, fragt Dr. Ulrich Enzel, Facharzt für Kinder­ und Jugendheilkunde aus Deutschland/Schwaigern beim Allgemeinmedizinkongress in Graz. Die Antwort ist: ja, leider. Erfahrene Lehrer und Erzieher bestätigen es aus ihrem Alltag: Diese Krankheitsbilder, auch New Epidemics genannt, hat es früher ebenso häufig gegeben, jedoch sind es heute auffällig mehr Kinder mit typischen „Störungen der seelischen Gesundheit“.

Die Hauptursachen liegen nicht unbedingt bei den Genen. Denn was diese jungen Menschen wirklich bedroht, ist das unmittelbare belastende Umfeld, dem sie schutzlos ausgeliefert sind“, so Dr. Enzel. Kinder brauchen vor allem Liebe, Geborgenheit, Respekt und Kommunikation auf Augenhöhe.

New Epidemics werden unter Experten Kinder und Jugendliche mit soziogenen Störungen, Verhaltensauffälligkeiten und Adipositas genannt – kurzum mit Störungen der seelischen Gesundheit. Die Ursachen dafür liegen in belastenden Interaktionen zwischen Kindern und ihren primären Bezugspersonen. Dafür kann es zahlreiche Gründe geben: zum Beispiel im Falle einer unerwünschten Schwangerschaft, bei sozialen Belastungen vor sowie während der Schwangerschaft bzw. nach der Geburt.

Gründe gibt es viele

Auch fehlende Feinfühligkeit der Eltern, deren mögliche psychische Erkrankungen, unbewältigte Paar- und Familienkonflikte, kritische Lebensereignisse wie Trennung, Krankheit, Tod Nahestehender oder ökonomische Probleme wie Arbeitslosigkeit bewirken einen starken Risikoanstieg zur Entwicklung einer dieser genannten soziogenen Störungen. Dr. Enzel: „Sind drei dieser Situationen gegeben, steigt das Risiko bereits auf 30,7 Prozent – bei vier zutreffenden Risiken sogar auf 47,7 Prozent.“

Existenzielle und emotionale Sicherheit

Einen sicheren Hinweis auf eine Entwicklungsgefährdung liefert oft der Sozioökonomische Status (SES). Ein niedriger SES erhöht statistisch gesichert lebenslang das Risiko psychischer Problemlagen, auch reduzierter Stresstoleranz und Depressionen und von Lernschwierigkeiten mit Auswirkungen bis in das künftige eigene Erziehungsverhalten und Familienklima gefährdeter Kinder.

Folgende Parameter des SES gelten als schwere Risikobelastung, wenn bereits auch nur zwei Faktoren zutreffen:

  • niedriges Bildungsniveau der Bezugsperson(en)
  • enger Wohnraum
  • psychische Störung der Bezugsperson(en)
  • Kriminalität
  • zerrüttete Familienverhältnisse
  • Ehekrisen – Streit, Trennung, emotionale Kühle; frühe Elternschaft (unter 18 Jahren)
  • Ein-Eltern-Familie bei der Geburt
  • unerwünschte Schwangerschaft, mangelnde soziale Integration und Unterstützung
  • ausgeprägte chronische Probleme
  • mangelnde Bewältigungsfähigkeiten im Umgang mit Lebenskrisen.

Anregungsarmut kann sich mindestens genauso negativ auf das Werden und Wachsen von Kindern auswirken wie die materielle. Charakteristisch sind eine auf das Notwendigste beschränkte, spracharme Kommunikation mit geringer kognitiver und sprachlicher Anregung, ein kaum strukturierter Tagesablauf mit „grasendem“ Konsumieren oft ungesunder Fertig-Lebensmittel unabhängig von fixen Mahlzeiten und schließlich stundenlanges Ruhigstellen mittels medialer Angebote, die mangels echter Interaktion nie wirklich anregen können.

New Epidemics: Annahme & Förderung

Auf jeden Fall brauchen Kinder brauchen in ihrer Explorations- und Lernbereitschaft zwingend Unterstützung. Nur dadurch können sie individuelles Potenzial ausschöpfen und ihre Entwicklungsaufgaben altersgerecht bewältigen.

Eine basisbildende, stabile Beziehung kann sich am besten entwickeln, wenn ein Kind in Kombination mit bedingungsloser Liebe und Wertschätzung auf Augenhöhe lebendig reagierende, Aufmerksamkeit schenkende Interaktion erfährt; oder es erhält eine konstant zuverlässige Reaktion auf seine Bedürfnisse. Auch stimmend verlässliche Mitteilungen und ein positiv bestärkendes Antwort-Reagieren auf seine Angebote sind eine Kontaktaufnahme förderlich. Zudem sind das Vertrauen in dieses einzigartige Kind, verlässliche Sicherheit und Geborgenheit sowie die Echtheit und das ehrliche Interesse der Bezugspersonen Balsam für die kindliche Seele.

 

FÖRDERUNG EINES POSITIVEN SELBSTBILDES
  • Ungeschuldete, bedingungslose Liebe
  • Wertschätzung als gleichrangiger Partner
  • Echtheit und ehrliches Interesse der Bezugsperson
  • Autonomie versus ständige Kontrolle („Hubschrauber­-Bezugsperson“)
  • Vertrauen in dieses einzigartige Kind
  • Anregung und Unterstützung geben, zur freien Entfaltung einer eigenen, originellen Persönlichkeit
  • Verlässlich Sicherheit und Geborgenheit spenden
  • Zulassen von Gefühlen (der eigenen wie der des Kindes)

 

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