Traditionelle Europäische Medizin (Teil 2)

Die einseitige Fixierung auf körperliche Befunde erfasst nur einen Teil der Krankheitsrealität. Unsere Schul- oder Apparate-Medizin definiert oftmals Krankheit nur mehr mit materiellen Veränderungen am Körper. „Die Traditionell Europäische Medizin bietet hingegen einen funktionellen Blick auf das Krankheitsgeschehen und kann dadurch zur Diagnose und zum Finden einer geeigneten Therapie beitragen“, erklärt Allgemein-medizinerin und TEM-Expertin Dr. Regina Webersberger. Das gezielte Anregen von Selbstheilungskräften und Strategien im Umgang mit Gesundheitsproblemen führen zur Besserung der Beschwerden.

Die Traditionell Europäische Medizin (TEM) hat sich in Europa in den vergangenen Jahrhunderten bis Jahrtausenden entwickelt. Allerdings gerieten durch die wissenschaftliche Schulmedizin die alten Lehren immer mehr in Vergessenheit. Mittlerweile wird jedoch die funktionelle Sicht auf Krankheiten und Behandlungen als wichtige Ergänzung der Schulmedizin wieder anerkannt. Die systematische wissenschaftliche Erforschung und Bewertung der TEM steht aber noch ganz am Anfang.

Methoden der Diagnostik

„Um den aktuellen Reaktions- und Regulationszustand des Körpers zu beurteilen, verwendeten die alten Ärzte verschiedene Methoden der Krankenuntersuchung. Regina Webersberger: „Da es keine apparativen Möglichkeiten der Diagnostik gab, beobachtete der Arzt den Patienten ganz genau. Für die Diagnostik wurden Puls, Antlitz, Zunge, Iris oder Urin verwendet, immer kombiniert mit einer genauen Erhebung der Vorgeschich te.“ Die Pulsdiagnose war sehr hoch entwickelt, Hinweise dafür finden sich im Kanon des Avicenna. Allerdings ist die Pulsdiagnose in der TCM und der TEM nur bedingt vergleichbar, da die Begriffe der Beschreibung und Einteilung völlig verschieden sind.

Methoden der Behandlung

Die TEM ist ein Konglomerat von verschiedenen Behandlungsmethoden. Pfarrer Sebastian Kneipp hat im 19. Jahrhundert eine Zusammenfassung der damals bekannten Therapiestrategien der Naturheilkunde in 5 Säulen propagiert. Dies sind Wasseranwendungen (Hydrotherapie), Heilkräuter, Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und Ordnungstherapie (Lebensordnung). Dazu kommen aus ärztlicher Sicht noch die sogenannten ausleitenden Verfahren (Fasten, Aderlass, Schröpfen, Blutegelbehandlung,…) Sie eignen sich besonders für die vielfältigen Probleme, die sich aus der heutigen Lebensweise mit ständigem Nahrungsüberangebot, fehlender körperlicher Betätigung und daraus resultierendem Übergewicht ergeben.

Regina Webersberger: „Eine sehr große Rolle spielen aber auch die Kräuter, waren es lange Zeit doch die einzigen verfügbaren Medikamente. Einige unserer heute bekannten Heilpflanzen wurden schon zur Zeit der Griechen und Römer verwendet – etwa Schafgarbe oder Melisse.“ In den überlieferten traditionellen Kräuterbüchern sind sicher noch einige Schätze zu finden. Die Wirkungsweise von vielen Pflanzen ist mittlerweile wissenschaftlich gut erforscht und dokumentiert. Aber auch hier gibt es noch viel zu lernen.

Prävention statt Reparaturmedizin

Sehr viele Erkenntnisse der modernen Präventionsmedizin decken sich mit den Empfehlungen der TEM. Gesunde Ernährung und körperliche Bewegung war zum Beispiel bei Pfarrer Kneipp ein wichtiges Thema. Regina Webersberger: „Natürlich waren moderne Zivilisationsleiden im Mittelalter noch nicht so verbreitet, aber auch Hildegard von Bingen meinte, dass maßloses Essen und Trinken, Zerstörung der Lebensordnung und Emotionen wie Ungeduld und Zorn zu Krankheiten führen können.“

Die TEM erweitert diese Empfehlungen um den individuellen Aspekt, der sich aus der Konstitution und aus der im Moment vorliegenden Säftekonstellation ergibt. „Ich sehe hier eine ganz wichtige Aufgabe, den Patienten mit individuellen Empfehlungen zu einem gesünderen Lebensstil zu motivieren. Denn ich kann auswählen, was passt. Einen Phlegmatiker werde ich nicht für eine Kampfsportart begeistern können, aber für Radfahren sehr wohl“, erklärt Regina Webersberger.

TEM und Schulmedizin

Die TEM bietet einen funktionellen Blick auf das Krankheitsgeschehen, und das kann zur Diagnose und zum Finden einer geeigneten Therapie beitragen. Regina Webersberger: „Die einseitige Fixierung auf körperliche Befunde erfasst nur einen Teil der Krankheitsrealität. Das gezielte Anregen von Selbstheilungskräften und Strategien im Umgang mit Gesundheitsproblemen führt zur Besserung von Beschwerden. Individualisierung der Therapien ist ein großes Schlagwort in der Medizin, in der TEM gehen wir immer von der individuellen Situation des Patienten aus.

Die Eigenverantwortung des Patienten wird gestärkt, denn er wird bei gesundheitsfördernden Entscheidungen unterstützt.“ In den letzten Jahren hat auch unter den Ärzte das Interesse an TEM deutlich zugenommen. In Deutschland gibt es sogar schon eine Abteilung an einem Universitätskrankenhaus in Berlin. Auch in Essen werden naturheilkundliche Therapien in einem stationären Setting bei chronischen Krankheiten angewendet und wissenschaftlich untersucht. In Österreich steht die TEM-Ausbildung noch am Anfang. Vorreiter sind hier die Kurhäuser der Marienschwestern. Auch der Verein TEH (Traditionelle Europäische Heilkunde) will Volksheilwissen vor dem Vergessen bewahren.

Zoë 06/2016

 

 

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